Ausstellungs-Essay von Beata Sievi

Frau im Korsett – von Schönheit und Sexappeal

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«Frau im Korsett täuscht uns einen perfekten Körper vor“, stellte der Modekritiker Eugene Chapus 1862 fest und fügte hinzu: „Diese Frau ist eine Lüge, doch ziehen wir offenbar die Lüge der Wirklichkeit vor». Frauen ihrerseits waren sich der Wirkung der Halbwahrheit bewusst und brachten seit Ende des 17 Jh. ihre Reize mit mehr oder weniger steifem Mieder konsequent zur Geltung. War diese Praxis ein Tribut an den männlichen Geschmack und somit Unterwerfung oder entsprang sie dem eigenen Bedürfnis nach Selbstinszenierung? Was bedeutete es für Frauen überhaupt, ein Korsett zu tragen? Und was heisst es heute, Korsett-Anfertigung als Beruf zu wählen? Habe ich in meiner 20-jährigen Arbeit als Corsetiére der Selbstermächtigung der Frauen oder eher dem Patriarchat gedient?

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Mein erstes Korsett war durch eine romantische Liebe inspiriert. Als beginnende Korsettdesignerin befand ich mich 2001 in einem außerordentlich intensiven Briefaustausch mit einem französischen Intellektuellen, der nicht weniger als ich von Korsetts fasziniert war. Unsere Korrespondenz, die mir verdeutlichte, dass das Korsett eine ideale Projektionsfläche für vielfältige geheime Wünsche sein kann, befruchtete meinen eigenen Wunsch, ein solches Kleidungsstück auch für mich selbst anzufertigen. Das Projekt war stark mit der Sehnsucht nach Anerkennung verbunden. Der Mann behauptete nämlich mehr über Korsetts als Objekt zu wissen, als ich je einmal im Stande sein würde und löste damit mein künstlerisches Aufbegehren aus. Ich bedruckte den Stoff für meine Kreation mit den Gedichten von Apollinaire und dessen Briefe an seine Geliebte Lou, um meinen Korrespondenten von meinem handwerklichen Können und von meiner Zuneigung zu überzeugen. Das Korsett „Lou“, in welches ich 50 Stunden Arbeit investierte, das äusserst originell und kunstvoll gestaltet war, jedoch nicht sehr eng wirkte, beeindruckte jedoch mehr meine Kundinnen als den Adressaten. So eröffnete sich mir eine neue kreative Epoche, die jenseits dieser Liebe fruchtbar war.

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Korsett – ein Folterinstrument?

Das «Korsett als Folterinstrument» ist für mich, im Gegensatz zur populären Auffassung, ein Mythos. Mit meinen Wurzeln in der polnischen Kultur, welche die Geschlechtsunterschiede im sozialen Verhalten stark betont, war ich schon früh für die weibliche Schönheit sensibilisiert. Eine bewusste Gestaltung des eigenen Äusseren, insbesondere der eigenen Kleidung, war für mich immer ein kreativer Akt, der auf das innere Wohlbefinden und auf das Selbstwertgefühl einen grossen Einfluss hatte. Die Kleider, die ich mochte, mussten nicht den Anspruch auf Tragkomfort, sondern den auf Eleganz zu erfüllen. Als ich mit den Studien der Korsettgeschichte begann, überzeugten mich daher die Ausführungen der Modehistorikerin Valerie Steele, dass das Tragen des Korsetts immer ein von Frauen bewusst eingesetztes Mittel der Inszenierung ihrer Schönheit war. In ihrem Buch «Womens fashion and eroticism» vertritt sie die Ansicht, dass ein Mieder immer ein selbstgewähltes Spiel mit den erotischen Reizen des Körpers ermöglichte, und die Trägerin dabei unzugänglich und geschützt blieb. Dies habe den allfälligen Mangel an Tragekomfort bei Weitem ausgeglichen:
«Die Mode war zuweilen unbequem oder unpassend, aber sie hat von möglichen Defiziten der Natur abgelenkt, während sie auf attraktive Merkmale aufmerksam machte und die Trägerin idealerweise hübsch und charmant aussehen und fühlen liess» – meint die Autorin. Das impliziert aber keinesfalls, dass Frauen ein modisches Accessoire wie Korsett mögen, weil es schmerzhaft ist. Der menschliche Geist kann sich offensichtlich auch an dem erfreuen, was für den Körper Schmerz oder zumindest eine Unannehmlichkeit bedeutet.

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Mode als Inszenierung des idealen Ichs

Die Funktion der Mode liegt nach Valerie Steele grundsätzlich darin, einem Menschen das Inszenieren eines idealen Selbsts zu ermöglichen. Das Korsett eignet sich hier perfekt, da es durch die modellierende Funktion dem Körper eine ideale Form verleiht. Ob der Taillenumfang dabei nur minimal oder drastisch reduziert wird, kann individuellem Empfinden angepasst werden. Mehr als alle anderen Kleider ist das Korsett dazu prädestiniert, Ausdruck einer Vision unseres physischen Selbst und unseres Selbstbewusstseins zu sein. Innerhalb der vorherrschenden Modetrends und ihrer materiellen Möglichkeiten haben Frauen daher immer die Kleider gewählt, die ihnen ein besseres Image ermöglichten. «Unsere modische Erscheinung ist eine Form der Selbstpräsentation, ein Kompromiss zwischen dem, was wir sind, und dem was wir sein möchten, zwischen dem privaten Selbst und dem Selbst für die anderen» – stellt Valerie Steele fest – «Mode ist immer ein Widerspruch zu Natürlichkeit, weil sie dem Menschen hilft nicht das reale, sondern das ideale Bild von sich selbst zu kreieren.»
Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, das Korsett als Vehikel des «idealen Selbst» einzusetzen, resultierte in meinem Fall in der neuen Kreation «Contessa rouge». Nicht nur war dieses Korsett in der Taille deutlich enger als alle vorherigen Modelle, sondern es verfügte auch über einen elaboriertes balconett, um den Brüsten eine vollendete Form zu geben. 40 Bänder mussten zwischen zwei Stoffschichten eingezogen werden, um einen sanften und doch sicheren Hebe-Effekt zu erreichen. Den hochwertigen Stoff sandte mir der französische Verehrer, mit dem ich inzwischen 300 Briefe ausgetauscht hatte, als Inspiration zu. Er hatte ihn an der Rue Montmartre in Paris eingekauft, bei einem Stoffhändler, der auch die Haute Couture Häuser belieferte. Füllig und edel schimmernd trug der rote Satin Duchesse aus reiner Seide einen Hauch der grossen Welt in mein Atelier in der Altstadt von Winterthur und täuschte mir und meinen Kundinnen Zugang zur weltlichen Opulenz vor.

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Korsett, Krinoline und weibliche Macht

Die Opulenz faszinierte mich fortan, insbesondere die des Barocks und des Rokokos. Immer wieder stellte ich mir die Frage, warum es stets neue Moden, neue Looks gab, die alle samt durch neue Formen des Korsetts ermöglicht wurden. Valerie Steeles antwortet und bringt es auf den Punkt: « Das Bedürfnis nach Neuem ist konstant und wird immer durch, egal wie geartete Kontraste, befriedigt, es geht um die immerwährende Erneuerung der erotischen Neugierde.» Meine künstlerische Neugierde veranlasste mich, detaillierte Recherchen über die wichtigsten historischen Korsettformen anzustellen, und mit den Jahren führte mein Ehrgeiz so weit, dass ich sie alle nachahmen konnte.
Das aufwendigste Projekt in diesem Zusammenhang war die Kreation «Madame Du Barry», die der Maitresse des Ludwig XV gewidmet war. Über 200 Stunden Arbeit erforderten das Korsett und die dazugehörende Krinoline, ein wahrhafter Exzess, erst recht angesichts der Tatsache, dass es dafür keine Auftraggeberin gab. Zumindest wurde die Robe im Rahmen einer kleinen Inszenierung vorgeführt. «Paradies im Boudoir» war ein Kabinettstück mit fünf Models und mit Harfenklängen für eine Handvoll nobler Kundinnen und Kunden. Während der Aufführung fiel die unglaubliche Anmut der Frau auf, die das enge Korsett und die opulente Krinoline trug, in der für Rokoko typischen ovalen Form. Und wie sie ihren Begleiter, dem es an Schönheit auch nicht fehlte, in den Schatten stellte.

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Kritiker der Krinolinen-Mode betrachteten das Accessoire im 18 Jh. als verwerflich, weil durch den bis zu drei Meter breiten Pannier ein Mann gezwungen wurde, hinter der modisch angezogenen Frau zu gehen. Die männlichen Kommentatoren deuteten den imposanten Umfang der Stahlreifenkrinoline, die nach einem kurzen Rückzug in den Zeiten der Französischen Revolution ein grosses Revival im 19 Jh. feierte, als Sinnbild für Statusdenken und Machtwillen der Frauen. In den Augen dieser Kritiker schien sich das schwache Geschlecht mittels der raumgreifenden Mode bewusst eine bessere Stellung anzumassen und den im Vergleich unscheinbar wirkenden Mann wörtlich beiseite zu drängen.

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In einer berühmten Karikatur von Charles Verniers 1857 wird eine Dame in einer Ballkrinoline dargestellt, die so gross ist, dass sie das Passieren einer normalen Türöffnung unmöglich macht. Zwei mit Spitzhacken bewaffnete Diener müssen einen breiteren Durchgang zum Ballsaal in die Wand schlagen. Korsett und Krinoline, die modischen Accessoires, die ihren Ursprung in der männlichen Vorliebe für eine schlanken Taille und breite Hüften hatten, wandelten sich in eine Strategie, die wortlos darauf abzielte, die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern umzustürzen.

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Optimierte Nacktheit – Korsettphilosophie im Boudoir

Die modischen Interessen der Frauen und ihr Streben nach Schönheit wurden oft als Eitelkeit bezeichnet und moralisch getadelt. Im Victorianischen England erschienen mehrere kritische Schriften, die in der Gesundheit, dem offenen Blick und der distinguierten Bewegung die ausreichenden Kriterien der Attraktivität einer Frau sehen wollten. Es seien die Qualitäten des Charakters wie Höflichkeit, Bescheidenheit und Selbstrespekt, die dem Körper die Aura der Schönheit verliehen – behauptete ein anonymer Autor von „Artificial Woman-Making“ in 1869. Vielleicht versteckte sich hinter diesen Aussagen der meist männlichen Kritiker die Angst vor den verführerischen Reizen der modisch gekleideten Frauen, deren Sexualität als gefährlich galt? Ungeachtet dieser Kontroverse zwischen natürlicher und künstlicher Schönheit ist ab ca.1870 ein gesteigertes Interesse der Frauen an luxuriöser Lingerie zu beobachten. Die Wäsche-Korsetts dieser Zeit werden aus farbigem und gemustertem Seiden-Satin gefertigt, oft von Hand bestickt und mit einem passenden Petticoat ergänzt. Es ist offensichtlich, dass dabei der Moment des Ausziehens mitbedacht wurde.

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In meinem Atelier empfing ich zuweilen Frauen, die – wie ich in den Gesprächen erfuhr – in intimen Situationen raffinierte Unterwäsche der Nacktheit vorzogen. Meine Korsetts mit ihrem ungewöhnlichen Design assoziierten sie aber eher mit Prestige und Gala-Events als mit einer intimen Situation der Verführung. Bis mich eine neue Kundin ausdrücklich darum bat, ein Korsett für sie zu entwerfen, das leicht genug wäre, um im Schlafzimmer getragen zu werden. Ihre Vorliebe für Dessous teilte sie mit ihrem attraktiven, um mehrere Jahre jüngeren Liebhaber. Ihre Geschichte erinnerte mich an die neuste Forschung der amerikanischen Neurologin Martha Meana, die besagt, dass der Ausdruck der Begierde in den Augen eines Mannes für Frauen das stärkste Aphrodisiakum sei. Weshalb also nicht mit der Illusion eines perfekten Körpers spielen, um das Verlangen zu steigern? Ich bestellte für meine Kundin aus England einen feinen Stoff und vom renommierten St. Galler Fabrikanten Forster Rohner zauberhafte Guipuire-Spitze. Es entstand ein Korsett, das eine perfekte Synthese aus Romantik und Frivolität darstellte und auch weitere Kundinnen begeisterte. Hat nicht schon Helene Hessel 1920 behauptet, dass jede Frau mit Hilfe der geschickten Kleidung im Stande sei, der «natürlichen» Polygamie des Mannes entgegenzuwirken? Die Berichte meiner Kundin über ihre lustvollen Erfahrungen und vor allem ihre wiederkehrenden Aufträge hielt ich für den Beweis des Erfolgs dieser Strategie.

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Die Boudoir-Kollektion aus den Jahren 2014-2017 war mein Versuch, das Spiel des Verhüllens und Enthüllens in den Vordergrund zu stellen. Der Name der Kollektion «Boudoir» nimmt Bezug auf die Bezeichnung des intimen Raumes zwischen dem Schlafzimmer und Essraum, in welchem im 18 Jh. Damen der Aristokratie ihre Liebhaber zu Besuch empfingen. Die an meinen neuen Korsetts angebrachten Strapsen, Spitzen, Schnürungen und Bänder dienten dazu, der Trägerin zu helfen, aus einem Akt der Entkleidung eine wahre Inszenierung zu machen und waren darauf ausgerichtet, das Auge des Betrachters und vor allem seine Geduld aufs Äusserste zu reizen. In der Folge durfte ich einige Boudoir-Korsetts als Geschenk begeisterter Herren an ihre geliebten Damen anfertigen.

Ein zeitgenössischer Philosoph bestärkte meine Auffassung der Erotik: „Das Erotische lebt nicht nur von einer Differenz zwischen den Geschlechtern, die angeblich längst hinfällig geworden ist, es lebt vor allem von einer Gestik des Entblössens, die wusste, dass das Wechselspiel von Enthüllen und Verhüllen nicht nur im faktischen Sinne das erotische Begehren strukturiert, sondern dem Eros auch seine philosophische Dignität gibt». Das schreibt Konrad Liessmann in seinem Essay «Eros, der listige Gott» und er fügt hinzu: «Eros ist in hohem Masse ein Spiel mit dem Verbergen und Entbergen von Wahrheiten, und die zufällig oder gezielt dem Blick preisgegebene Haut, die mehr ahnen als sehen liess, galt lange als das sinnfälligste Moment in der Dynamik erotischer Begegnungen..» Dies wollte ich auch für die heutige Zeit geltend machen. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, machte ich meinen Kundinnen deutlich, dass es sinnvoll sei, klar zu unterscheiden zwischen den Korsetts, die ihre Schönheit zur Geltung bringen und von solchen, die die erotische Attraktivität betonen – und die Letzteren nur im jeweils passenden, d.h. im privaten Kontext einzusetzen. Dort allerdings versprechen sich Frauen von ihren privaten Inszenierungen oft mehr, als diese tatsächlich erbringen, wie es sich auch später im Fall meiner Kundin herausstellte.

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Frau im Korsett: Schön oder sexy? Weibliche Attraktivität im Wandel der Zeit

Die Soziologin Eva Illouz macht in ihrem Buch «Warum Liebe weh tut» darauf aufmerksam, dass sich die heute so wichtige Sexyness deutlich vom Begriff der Schönheit unterscheidet. Bis ins 19. Jh. galten Frauen als attraktiv aufgrund der Schönheit, die nicht nur als eine körperliche, sondern zugleich eine geistige Eigenschaft verstanden wurde: «Die sexuelle Attraktivität als solche stellt ein neues Bewertungskriterium dar, das gleichermassen von der Schönheit wie vom moralischen Charakter abgelöst ist.» Sie ist darauf ausgerichtet, durch bewusst eingesetzte körperliche, sprachliche und kleidungsbezogenen Kodes direktes sexuelles Begehren auszulösen.
Auch Valerie Steele betont, dass Schönheit bis in die viktorianische Epoche immer auch als spirituelle, intellektuelle und ethische Exzellenz begriffen wurde und «perfekter Körper gleichzeitig noble Seele bedeutet». – Korsettmode hat zwar die erotische Attraktivität der Frauen erhöht, gleichzeitig war sie aber in den kulturellen Kontext eingebettet. So z.B. waren die exzentrischen und auffallenden Kleider den Maitressen und Kokotten vorbehalten, während es nur für die verheirateten Frauen als angemessen galt, wertvolle, aber elegante Kleider zu tragen, und von den jungen Frauen und Mädchen Bescheidenheit äusserer Erscheinung verlangt wurde. Das Korsett durfte das Dekolleté durchaus zur Geltung bringen, aber die erlaubte Tiefe wurde durch die Tageszeit, Art des gesellschaftlichen Anlasses und vor allem durch die Vertrautheit der sozialen Umgebung bestimmt. Das Korsett und die gesamte damit verbundene Gestaltung des Auftritts symbolisierten somit vor allem den gesellschaftlichen Rang und das Prestige, weshalb die Frauen mit dem niedrigeren gesellschaftlichen Status gern die Moden der Aristokratie und der Bourgeoisie nachahmten.
So sehr das Korsett die erotischen Reize der Frau hervorzuheben vermochte, besass es gleichzeitig eine etwas entgegengesetzte Bedeutung – die aufrechte Körperhaltung, die es erforderte, und der Schutz, welchen es dem Körper bot, demonstrierten die moralische Haltung der Trägerin. Bis Ende des 19. Jh. galt es für Frauen aller Schichten als unsittsam, ohne Korsett in der Öffentlichkeit zu erscheinen – «lockeres Korsett- lockere Sitten» – lautete eine in England des 19. Jh. geläufige Redewendung.
All das unterscheidet sich sehr von der expliziter Reduktion des weiblichen Körpers auf die optischen Reize und seine Funktion als Genussobjekt, wie wir es seit der Gründung des Magazin Plyboy 1953 erleben.

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#Orgasm me first – Korsett in Zeiten der Me Too Bewegung

Ich traf meine Kundin, die so viel in ihre Verführung investiert hatte alleine in meiner Salon-Veranstaltung wieder, die der weiblichen Lust und der erotischen Selbstbestimmung gewidmet war. Ihr Freund hatte sie verlassen, nachdem sie etwas konsequenter auf dem eigenen sinnlichen Vergnügen beharrt hatte. Sie fragte mich, ob ich ihre Korsetts für Ausstellungszwecke verwenden möge, weil sie sich nicht mehr an ihre Leidenschaft erinnern will. Die Geschichte entfachte eine angeregte Salon-Diskussion und es stellte sich heraus, dass sich einige Frauen heute als Verliererinnen der sexuellen Revolution sehen, weil sie in der freien Sexualität nicht nur dazu gezwungen werden auf Liebe und Wertschätzung, sondern oft sogar auf die sexuelle Befriedigung zu verzichten. Auch die Umfragen von Psychologinnen und Sexologinnen belegen, dass insbesondere junge Frauen im intimen Setting mit einem egoistischen Verhalten der Männer konfrontiert sind, und den männlichen Dominanzstrategien oft nicht entgegenzuwirken vermögen. Die Kultur der Moderne, welche die sexuelle Freiheit der Frauen als Zeichen ihrer Macht stilisiert, ermächtigt sie offensichtlich noch weniger dazu, für ihr eigenes sinnliches Vergnügen einzustehen, als es in Zeiten meiner Jugend üblich war.

Da ich nicht nur Korsettdesignerin, sondern auch Psychologin bin, und den Wunsch verspüre, Frauen zu ermutigen, nicht nur an die Verführungskunst zu denken, sondern auch für ihre sinnlichen Bedürfnisse einzustehen, habe ich anschliessend ein Korsett mit der Aufschrift «#Orgasm me first» kreiert. Es wurde ganz schlicht. Ich liess die auffordernde Aussage in Schwarz auf einem weissen Leinenstoff aufdrucken. Die junge Frau in der Druckerei, die meinen Auftrag entgegennahm, liess sich in kein Gespräch über die Aussage der Kreation verwickeln und erledigte ihren Auftrag mit einer unerschütterlichen sachlichen Neutralität. Als meine Arbeit an diesem Korsett beendet war, wurde mir bewusst, dass dies vorerst meine letzte Kreation war.

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Ob eine Frau, die ein Korsett trägt, heute noch als Subjekt oder lediglich als Lustobjekt betrachtet und erlebt wird, hängt offensichtlich vom Potential des Betrachters ab. In Zeiten der Sexualisierung und Vermarktung des weiblichen Körpers liegt die Gefahr nahe, dass die Frau auch im Korsett lediglich auf die primären Reize reduziert wird. Mir wäre es lieber, wenn ein Korsett erneut als Ausdruck von Schönheit und innerer Stärke fungierte, und vorerst Distanz signalisiert. Wenn die Diagnose von Eva Illouz über das Vorherrschen des hedonistischen Kalküls und die zunehmende Unfähigkeit, tiefe, verlässliche Bindungen einzugehen, stimmt, dann gilt es, den Einsatz der Verführungskräfte gut abzuwägen, auch wenn diese überall im Namen der Befreiung eingefordert werden. Vielleicht kann sich die Frau von heute zum Subjekt ihrer sinnlichen Inszenierung machen, indem sie den begehrenden männlichen Blick, der ihr begegnet, zu lenken beginnt? Möglicherweise dürfte sie ihn überhaupt erst dann erwidern, wenn er nicht nur Begehren, sondern Liebe – und am besten jenseits des Boudoirs – zum Ausdruck bringt.

Literatur:
Valerie Steele: Fashion and Eriticism , Oxford University Press 1985
Valerie Steele: The Corset, Yale University Press 2001
Ridikül. Mode in der Karikatur, Du Mont 2003
Eva Illouz: Warum Liebe weh tut: Surhkamp 2016
Sandra Konrad: Das beherrschte Geschlecht, Piper 2017
Konrad Liesmann: Der Listige Gott, Zsolnay 2002

Ausstellung

Danksagung:
Mein Dank geht an alle Freunde, die mir beim redigieren des Textes behilflich waren, insbesondere an meine Schreibmentorin Marianne Ulmi.
Ich bin auch allen Fotografen verpflichtet, die meine Arbeit dokumentiert haben. Besonders dankbar bin ich Ewald Vorberg, der über mehrere Jahre hinweg mit viel Geduld und Hingabe an der Umsetzung meiner Vision der Sinnlichkeit, die der Subjektivität der Frau von heute gerecht wird, gearbeitet hat.

Ausstellung:
Eine grosse Retrospektive meines Schaffens ist im Rahmen einer Ausstellung „Korsetts – edel und bunt geschnürt“, die auch historische Korsetts zeigt, im Museum Spielzeug-Welten in Basel vom 15. April bis 9. Oktober 2019 zu sehen. Die gesamte Kollektion von 45 hochwertigen, handgefertigten Korsetts, wird nach der Ausstellung zum Kauf angeboten oder aber kann für weitere Ausstellungszwecke gemietet werden. Angaben zur Ausstellung finden Sie auf der Homepage des Museums.

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