

Romantische Liebe wird heute vor allem mit geteilter Euphorie und einem intensiven Glücksgefühl assoziiert. Wer ohne Gegenseitigkeit liebt, wird als unglücklich, emotionell unreif und therapiebedürftig angesehen. Diese Auffassung der Liebe, welche die Ökonomie des Wohlbefindens und das Diktat der Reziprozität in Vordergrund stellt, zeugt von einem kulturellen Wandel der sich in den letzten 100 Jahren vollzogen hat.

Als ich im Frühjahr beauftragt wurde, eine einzigartige Korsett-Kreation „Tränen des Eros“ anzufertigen, nahm ich es als Anlass, über den Liebesschmerz zu reflektieren. Dabei zog ich vor allem den französischen Philosophen Jean-Luc Marion zur Rate. In seinem Essay „Das Erotische. Ein Phänomen“ stellt Marion eine unzeitgemässe Frage nach der Berechtigung einer Liebe, welcher keine Sicherheit der Erwiderung vorausgeht: – „Kann ich selbst als erster lieben, ich zuerst?“. In seinen Augen besteht daran kein Zweifel – im Gegenteil – was heute oft als Schwäche bezeichnet wird, definiert der Autor als ein Zeichen der einzigen wahren Liebe, die nichts mit einer Einschränkung der Freiheit gemeinsam hat. „Die unvergleichbare und unwiderlegbare Souveränität des Liebens erhält ihre Macht daraus, dass sie sich so wenig von der Reziprozität tangieren lässt, wie sie sich von der Gegenleistung für eine Investition anstecken lässt“




Der französische Philosoph ist der Überzeugung, dass Liebe nicht erwidert werden muss um als vollendet empfunden zu werden – wie ein Geschenk, der an seinem Wert nichts verliert, auch wenn er nicht angenommen wird. Allen Menschen, die in unerwiderter Liebe ein Verlust sehen wollen, gibt er zu bedenken, dass nur derjenige verliert, der sich der Liebe entledigt. Dem Liebenden bleibt hingegen das wichtigste – die Liebe selbst – erhalten, wenn immer er sich dafür entscheidet. Ohne Gegenleistung und ohne Rücksicht auf das eigene Wohlergehen zu lieben bedeutet somit ein Wagnis und ist der grösste Liebesbeweis.
Eine wahre Hingabe kann nur jemand erfahren, der den Anspruch auf die Kontrolle über seine Gefühle aufgegeben hat. Die Ohnmacht der Vernunft zu akzeptieren und den eigenen Empfindungen zu vertrauen fällt uns in der rationalisierten und technisierten Welt von heute oft schwer. Für Jean-Luc Marion hat die Abwesenheit der Vernunft in Sachen Liebe etwas Natürliches: „Der Liebe mangelt es an Vernunft in dem Masse, wie es einem an Luft mangelt, je höher man auf den Berg steigt. Die Liebe weist die Vernunft nicht zurück, sondern die Vernunft selbst weigert sich, bis dahin zu gehen, wo der Liebende hingeht“.


Dass eine solche Liebe ein Risiko des Schmerzes in sich birgt liegt auf der Hand. Anderseits, nur wer die Tränen umarmen kann, wird auch die Wonnen der erotischen Verschmelzung auskosten können. Darüber dachte ich, als mich meine Kundin aufforderte in ihrem Korsett eine Bluttropfen-Spur gestalterisch anzudeuten. Die Verletzlichkeit ist in jeder Leidenschaft immanent eingeschlossen. In einer Welt, in dem Eros lediglich als angenehmes sexuelles Arrangement betrachtet wird, ist die Liebe bedroht. Ist nicht Ihre Verteidigung eine Aufgabe der Kunst und der Philosophie?

Eine längere Version dieses Artikels ist in meinem philosophischen Blog zu finden. Wenn Sie sich für das Thema „Liebesschmerz“ interessieren, empfehle ich Ihnen mein Salon vom 4. November, der schwierigen Liebe gewidmet ist. Details finden Sie hier.
Traumhaft schön! Wunderbar umgesetzt!
Yolanda Mühlethaler