Seit zwei Jahren schon nehme ich keine Aufträge für Korsettanfertigung mehr an. Auch wenn diese Information auf meiner Homepage ersichtlich ist, bekomme ich immer noch interessante Anfragen. Kürzlich rief mich ein Mann an, der lange Zeit für den Luxus eines bei mir angefertigten Korsetts gespart hatte und die Schliessung meines Ateliers gar nicht mitbekam. In der gleichen Woche meldete sich auch ein Kunde, der bereits ein Lederkorsett von mir besitzt, in der Hoffnung noch eines aus Stoff zu bekommen. Und räumte mir sogar jegliche künstlerische Freiheit in der Gestaltung des Korsetts ein. Auch 1999, als ich unter dem Namen «entre nous» ein Massatelier für Korsetts in Winterthur eröffnete, und besonders nachdem die lokale Presse und der «Tagesanzeiger» die Eröffnung mit einem Artikel gewürdigt hatten, bekam ich viele Anfragen von Männern. Sie wollten nicht – wie ich anfänglich dachte – ein Korsett für eine Partnerin anfertigen lassen, sondern fragten ausdrücklich nach einem für sich selbst. Es blieb mir nichts anders übrig, als mich dieser unerwarteten Herausforderung zu stellen – ich musste dem Namen des Ateliers, der einen vertrauenswürdigen Rahmen für verborgene Wünsche signalisierte, gerecht werden.

Jeder Anfang ist schwer – Learning by burning
Den psychologischen Anforderungen nachzukommen und meinen Interessenten die nötige Toleranz und Diskretion entgegenzubringen, fiel mir nicht schwer. Es war nicht das Psychologie Studium an der Akademie der Katholischen Theologie im Warschau der 80-er Jahre, das mich auf solche Themen vorbereitet hatte, sondern die etwas später absolvierte Damenschneiderinnen-Lehre im Theater am Neumarkt in Zürich. Dort lernte ich den Umgang mit allerlei originellen Persönlichkeiten. Meine männlichen Kunden waren dankbar für die Selbstverständlichkeit, mit der ich ihren Korsettfantasien begegnete. Mit den Jahren lernte ich zudem mit diesen Sehnsüchten so umzugehen, dass meine kreative Unterstützung dieser besonderen Bedürfnisse ein Teil meiner beruflichen Professionalität wurde und niemand dies als persönliche Neigung verstand. Doch über das Tightlacing, das Einschnüren und Reduzieren des Taillenumfangs um mindestens 15 cm, das von den männlichen Korsettenthusiasten oft erwünscht wurde, wusste ich anfänglich ehrlich gesagt, nicht viel. Auch die männliche Anatomie, die damit verbundene Schnitt-Technik und das kostbare Fachwissen über Anfertigung eines engen Korsetts waren für mich damals ein Neuland. Entsprechend äusserte sich mein allererster Kunde über sein Korsett aus blauem Seidensatin, das ich nach bestem Wissen und Gewissen gefertigt hatte, auf einem Korsettforum – „Sie ist keine Korsettmacherin, sondern eine Theaterschneiderin“. Ich verstand, dass es noch einiges zu lernen gab.


Da es anfangs 2000 zwar einige wenige Internet-Foren für Korsettträger gab, aber keine für den Austausch von Fachpersonen, die Korsetts anfertigen – und die wenigen Korsettmacher*innen, die es in Europa gab ihr Wissen streng behüteten, blieb mir nur der Weg der Autodidaktik übrig. In Bezug auf Männerkorsetts war er schwierig, weil es in den Museen, deren Spezialsammlungen ich besuchte, um historische Korsetts zu studieren, keine Herrenkorsetts zu sehen gab. Geleitet durch mein ausgeprägtes analytisches Denken und meinen handwerklichen Perfektionismus nahm ich also learning by burning in Kauf. 2001 fertigte ein sehr enges Korsett aus Rips Stoff und Leder an, das besonders schön gestaltet und – zum ersten Mal – den Ansprüchen des Kunden vollkommen zu entsprechen schien. Einige Wochen nach der Lieferung rief mich der Kunde an, mit der Nachricht, dass eine Naht unerwartet gerissen ist, als er niessen musste. Es lag sicher nicht an der Fadenstärke, da ich von Anfang an besonders starke Fäden benutzte. Das Problem war die Art und Weise, wie die Tunnel für die Korsett-Stäbe angebracht waren; schön für das Auge, boten sie nicht genügend Stütze für die Starke Spannung, die im tight lacing Korsett auf die Nähte ausgeübt wird. Dies liess sich nur ändern indem ich das ganze Korsett in einer neuen Technik noch einmal anfertigte!

Dandy oder der «verweiblichte Mann»
Auch wenn viele darüber staunen, dass in den 20 Jahren meiner Tätigkeit als Corsetière ein Viertel meiner Klientele Männer waren, ist das Tragen des Korsetts von Männern kein neues Phänomen. Modeforscherin Valerie Steele zitiert in ihrem Werk «The Corset» einige Dokumente, die beweisen, dass diese Praxis im 19 Jh. im Militär, insbesondere in der Kavallerie, verbreitet war. Auch von den Reitsportlern und von fettleibigen Herren wurde das Accessoire gern als Stütze benützt, was sich in der Werbung von damals widerspiegelt. Einige Korsettmanufakturen warben mit Bildern und einschlägigen Slogans direkt um die männliche Kundschaft.



Doch eine grössere Verbreitung fand die Praxis vor allem im frühen 19. Jh. im Zusammenhang mit dem Phänomen des Dandyismus. Die Modeforscherin Adelaide Rache wirft in ihrem Buch «Ridikul» einen nuancierten Blick auf das Phänomen.

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. war die neue Gesellschaftsschicht der Bürgerlichen darauf bedacht, ihrem neuen politischen Status auch in ihrer Kleidung Ausdruck zu verleihen. Dazu gehörte vor allem die Farbe Schwarz – ein hoher schwarzer Hut, lange schwarze Röhrenhosen, Frackrock aus schwarzem Tuch. Nur die Westen durften bunt oder kariert, die Brust leicht wattiert, und die Taille betont sein. Auch wenn aus heutiger Sicht diese Mode durchaus körperbetont und verspielt erscheint, stellte sie in Augen der Männer, die sich noch an die höfische Tradition erinnern konnten, eine lieblose Zwecktracht dar, die alle gesellschaftlichen Unterschiede nivellierte. Aus dem Aufbegehren gegen diese modische Gleichmachung entstand die bunte und extravagante Dandy Mode – ein Männerideal, das die höfische Tradition wieder aufleben liess. Der modische Auftritt eines Dandys erforderte einen farbigen enggeschnittenen Anzug, eine enge Kniehose, ein weisses Hemd, kunstvoll umgelegte gestärkte Halstücher und Krawatten und nicht selten ein Korsett, damit er überhaupt in den stark taillierten Frack schlüpfen konnte. Die erste Generation von Dandys sorgte in London und Paris für Aufsehen und forderte den Spott der Karikaturisten heraus.

Dabei ging es den Dandys nicht nur um Kleider, sondern um eine bestimmte Lebenshaltung. Charles Baudelaire, der später der „metaphysischen“ Phase des Dandytums angehörte, definiert den Dandy als denjenigen, der die Ästhetik zu einer lebendigen Religion erhebt, “In bestimmter Hinsicht reicht das Dandytum nah an Spiritualität und Stoizismus heran. (…) Diese Wesen haben kein anderes Ideal als die Pflege der Idee der Schönheit in ihrer eigenen Person und die Befriedigung ihrer Leidenschaften im Fühlen und Denken. Im Gegensatz zu dem, was viele gedankenlose Menschen zu glauben scheinen, ist Dandytum nicht einmal eine übermäßige Freude an Kleidung und Eleganz. Für den perfekten Dandy sind diese Dinge nicht mehr als ein Symbol der aristokratischen Überlegenheit seines Geistes.“ Diese Haltung scheint zumindest einigen meiner Kunden, für die ich Korsetts aus teuersten Stoffen, Stickereien und Goldfaden fertigen durfte, nicht fremd gewesen zu sein.



Laut Valerie Steele, die zu dem Thema der Männerkorsetts intensiv recherchierte, begann sich die Männermode nach 1850 stark zu verändern. Mit der Erweiterung der Anzüge, die keine Betonung der Brust und Taille mehr vorsahen, entfiel auch für die Männer der Grund oder nur Vorwand, ein Korsett zu tragen. Die Bourgeoisie behauptete, dass es der Männlichkeit widerspricht, so viel über Mode nachzudenken. Der gewöhnliche Bürger wurde nach 1850 endgültig grau und der Ausdruck der Individualität reduzierte sich auf die Wahl der Krawatte oder einer Blume im Knopfloch. Die Tatsache, dass sich in dieser Zeit dennoch einige Betriebe weiterhin in der Anfertigung von Herrenkorsetts spezialisierten und dies in ihrer Werbung deutlich machten, lässt laut Steele vermuten, dass es gegen Ende des 19 Jh. an männlichen Korsett Enthusiasten und Crossdresser nicht fehlte aber sie mussten ihre Vorliebe fortan geheim halten.

Crossdressing damals und heute
Als Crossdresser, bezeichneten sich auch einige meiner Kunden. Da sie mir während der Anproben nicht selten ihre Geschichten anvertrauten, erfuhr ich vieles über die geheimen Vorlieben, die sich nicht nur auf das Korsett und damit erzeugtes besonderes Körpergefühl, sondern auch auf die weibliche Bekleidung allgemein ausdehnten. Es waren bei weitem keine gesellschaftlichen Aussenseiter, sondern Menschen mit bürgerlichen Berufen, oft verheiratet und Familienväter. Selbstverständlich ging ich als Psychologin anfänglich auch den möglichen Hintergründen solcher Neigungen nach, doch fand ich widersprüchliche und meist kaum wissenschaftlich belegte Interpretationen. Die Neigung zum gegengeschlechtlichen Kleiderwechsel wurde oft mit masochistischen Tendenzen in Zusammenhang gebracht. Nach dieser Theorie benutzen Transvestiten die weibliche Kleidung, um besser in die untergebene Rolle zu schlüpfen. Andere Theorien versuchen den Transvestitismus durch eine Art Persönlichkeits-Störung zu erklären. Argumentiert wurde, dass der heterosexuelle Transvestit bemüht sei, durch die weibliche Verkleidung selbst die ideale Frau zu verkörpern, die er in der Realität aufgrund seiner Beziehungsunfähigkeit nicht finden kann. Schliesslich gab es noch den Versuch, den Wunsch von Männern, Frauenkleider zu tragen, durch frühkindliche Prägung zu erklären – die Betroffenen wären im unbewussten Bestreben gefangen, dem Wunsch der Eltern, die sich ein Mädchen und nicht einen Jungen als Kind gewünscht hätten, gerecht zu werden.

Da alle diese Erklärungsversuche unzulänglich oder überholt schienen und es an den neuen belastbaren Studienergebnissen fehlte, habe ich mich entschieden, mich in meiner Arbeit auf die eigene Wahrnehmung zu verlassen und jeden Kunden in seiner Individualität kennenzulernen. Ich erkannte bald, dass sich viele meiner Crossdressing-Kunden durchaus in ihrem männlichen Körper zu Hause fühlten, es aber genossen, sich als Frau zu verkleiden. Anders als Transsexuelle wünschten sie keine Geschlechtsumwandlung. Meistens waren es heterosexuelle Männer, die den unwiderstehlichen Drang verspürten, zeitweise in die Rolle einer Frau zu schlüpfen. Und sie liebten es einfach, ihre weibliche Seite auszuleben. Nicht selten war es nur im Geheimen möglich, aus Angst, die Partnerin damit zu brüskieren. Einer meiner Kunden wartete mit der Realisierung seiner Wünsche bis ins hohe Alter und leistete sich ein Korsett erst mit dem Geld, das er nach dem Tod seiner Frau geerbt hatte. Er zeigte anfänglich ein schlechtes Gewissen, da seine verstorbene Frau für derartige Frivolitäten kein Verständnis hatte, doch die Freude an seinem Korsett überwog schliesslich die Zweifel und er bestellte sogar ein ganzes Outfit mit einem eleganten Bleistift-Jupe und einer feinen Seiden Bluse. Im Gegensatz zu einigen anderen Kunden, die zu ihren Korsetts einen langen Herrenrock bevorzugten.




Die Literatur über das Crossdressing und den Transvestitismus erwähnt, dass manche Akteure den Kleiderwechsel und das Korsett als erotisch stimulierend empfinden. Möglicherweise trifft es auch auf einige der Männer, die bei mir bestellten, doch war für mich der Einblick in diesen intimen Bereich nicht erwünscht. Die Kunden, die mich über zu Privatem in Kenntnis setzen wollten, wiess ich mit einem Augenzwinkern daraufhin, dass dies den Kreationsprozess nachteilhaft beeinflussen könnte. Die wichtigste Frage lag für mich immer in der Gestaltung. – Ob ich für die vagen Fantasien einen Ausdruck finden würde, der sowohl den Kunden begeistert als auch meinen künstlerischen Anforderungen gerecht würde. Diese Herausforderung anzunehmen, führte mich auf Zeit- und Still-Reisen, die mein handwerkliches Wissen und Können enorm bereicherten. Von einem Samurai-Kostüm bis zum modernen Lederkorsett, von einer Kaiserinnen-Prunkrobe, über eine Dienstmädchen-Uniform aus dem 19 Jh. bis zu moderner Dragqueen – ich wurde mit einer grossen Bandbreite von Wünschen konfrontiert und durfte mein Kunsthandwerk entfalten und vervollkommnen. Dabei stellte ich nur eine Bedingung – dass die Stoffe edel sein müssen und die anspruchsvolle Couture-Qualität geschätzt und honoriert wird. Es war eine anregende Zeit, auf die ich nun mit etwas Wehmut zurückblicke. Wer weiss, vielleicht werde ich im nächsten Jahr doch noch einen ausgewählten Auftrag annehmen…

Zusätzliche Informationen
Heutzutage sehen die meisten Experten Menschen mit dem Hang, sich vorübergehend zu verkleiden, nicht als krank. Doch nach den internationalen medizinischen Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) zählt diese ungewöhnliche Vorliebe noch immer zu den psychischen Störungen. Dabei wird zwischen zwei Diagnosen unterschieden. Wenn die Betroffenen sich nur deshalb als Frauen oder Männer verkleiden, weil sie sich selbst zeitweise im anderen Geschlecht erfahren möchten, wird dieses Verhalten „Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen“ genannt und den „Störungen der Geschlechtsidentität“ zugeordnet. Hängt die Vorliebe für gegengeschlechtliche Kleidung dagegen mit dem Wunsch nach sexueller Erregung zusammen, dann sprechen die Mediziner vom „Fetischisten-Transvestitismus“. Diese Variante gehört offiziell zu den „Störungen der Sexualpräferenz“. Interessanterweise wird diese Diagnose vor allem bei Männern gestellt, worin sich ihre starke soziokulturelle Verankerung spiegelt. Frauen mit Vorliebe für männliches Verhalten und Kleidung werden mehrere Möglichkeiten eingeräumt, ihre Impulse ins Alltagsleben zu integrieren, ohne dass dies als ein Verstoss gegen die Gesellschaftsnormen oder gar als Krankheit zu gelten hat.

Literatur:
The Corset. A cultural history. Valerie Steele, 2001
Ridikül! Mode in der Karrikatur 1600 bis 1900, A.Rasche und G.Wolter, 2003